Zwischenruf aus der Peripherie

Dass Kirche kleiner und bescheidener wird und doch lebendig bleibt: das ist eine realistisch-zuversichtliche Vorannahme, aus der heraus unser Autor Volker Pröbstl einen kritischen Blick auf „Entwicklungen in der kirchlichen Landschaft“ wirft. Pröbstl ist Dekan in Selb in Oberfranken. Von dort sein „Zwischenruf aus der Peripherie der Peripherie“, der sich an die kirchlichen Leitungsorgane, Hauptamtliche in Ämtern und Einrichtungen wendet.

Pröbstl kritisiert die Kommunikation zwischen oben und unten, die kanalisiert und teils gar gestoppt wird; sieht hektischen Aktivismus, wie kirchliche Strukturen verändert und zusammengefasst werden, stellt dabei überwiegend ein technokratisches Denken fest. Im Effekt aber, so fürchtet Pröbstl, wird der Verwaltungsapparat ausgebaut, werden Hierarchieebenen verfestigt und erweitert. Nicht zuletzt sieht Pröbstl die voranschreitende Digitalisierung vor allem im Bereich der Personalakten als äußerst kritisch. Nebeneffekt: Der Kirchenleitung mit ihren Ämtern und den landesweiten Einrichtungen droht ein dramatischer Loyalitätsverlust.

Hier sein „Zwischenruf aus der Peripherie der Peripherie“:

 

Volker Pröbstl

Zwischenruf aus der Peripherie der Peripherie

 

 

 

Mit dem Fahrrad habe ich den Wartberg erreicht. Der Waldhügel befindet sich am Ostrand des Dekanatsbezirks Selb. Ich überblicke die innere Hochfläche, die vom Hufeisen von Steinwald und Fichtelgebirge eingeschlossen ist. Keine Region in Bayern hat Deindustrialisierung, Abwanderung und demografischen Wandel so heftig ertragen. Auch von den Austrittswellen ist sie betroffen. In dieser Region mussten in den letzten 15 Jahren tiefe Einschnitte in der kirchlichen Struktur angegangen werden.

Ich schaue über die Kleinstadt Selb auf die Weiler und Dörfer, in denen Kirche weiterhin lebendig ist. Kirche verändert sich, wird kleiner und bescheidener. Ich bin zuversichtlich, dass dies auf weiterhin gelingen wird.

Was mir aber Sorgen macht, sind die derzeitigen Entwicklungen in der kirchlichen Landschaft, bei Leitungsorganen, Hauptamtlichen, in Ämtern und Einrichtungen.

 

A) Drei Beobachtungen möchte ich teilen:

1. Die Kommunikation wird kanalisiert oder gestoppt: Im Kirchengemeindeamt gibt es mittlerweile festgelegte Zeiten, in denen die Chance besteht, Mitarbeitende ans Telefon zu bekommen. Bei der Abwesenheitsnotiz ist gelegentlich zu lesen, dass in der Urlaubszeit eingehende Mails nicht bearbeitet werden. Briefe von Kirchenvorständen und Leitungsgremien werden von der Kirchenleitung hin und wieder überhaupt nicht beantwortet.

 

2. Auf der anderen Seite höre ich zunehmendes Zetern. Ja, wir haben schon früher beim späten Bier ironische Bemerkung über diese oder jene Stelle in kirchlichen Ämtern gemacht. Aber ich nehme wahr, dass das Klagen und Schimpfen gehässiger und feindseliger wird. Der Kirche und insbesondere der Kirchenleitung mit ihren Ämtern und den landesweiten Einrichtungen droht in meinen Augen ein dramatischer Loyalitätsverlust.

 

3. Dann erlebe ich häufig hektischen Aktivismus. Möglichst schnell sollen kirchliche Strukturen zusammengefasst werden. Möglichst schnell soll die Zahl der Gebietskörperschaften sinken. Möglichst schnell müssen alle Vorlagen abgearbeitet werden am besten mit der Drei-Farben-Ampel-Logik. Es entsteht ein eigenartiger Zeitdruck auf Kosten der Präzision.

 

Vermutlich können die Lesenden hier weitere eigene Beobachtungen ergänzen. Mit „Kirche in der Problemtrance“ würde ich die Phänomene einordnen, die ich aus meinem begrenzten Blickwinkel im hohen Nordosten wahrnehme. Wie kommt es dazu?

 

B) Ich versuche es mit drei Hypothesen:

 

1. Weiterhin dominiert ein technokratisches Denken, das von einem linearen Wirkungszusammenhang ausgeht. Es gibt zwar viele Menschen in unserer Kirche, die systemische Zertifikate haben. Sie kennen die Werkzeuge. Sie benutzen diese, um damit feste selbstgesetzte  Ziele anzusteuern. Der Psychotherapeut Gunther Schmidt spricht in seinen Vorträgen gerne  von „Tooligans“.

Wer systemisch-konstruktivistisch zu denken versucht, der wird eine andere Haltung einnehmen: „Es gibt ganz vielfältige Sichten auf die Wirklichkeit“ „Es könnte auch ganz anders sein“. „Meine Wahrnehmung ist meine ‚Wahrgebung‘. “ (G.Schmidt).  „Ursache und Wirkung sind meine Setzungen in verwobenen Regelkreisen“. „Wir navigieren beim Driften“ (F.B.Simon, G.Weber)  „Interventionen funktionieren nicht zielgenau - es sei denn, ich setze aufs Zer- und Verstören“. Viele Interventionen, die ich gerade erlebe, wirken bestenfalls als Verstörungen.1

 

2.  Unsere Kirche ist von ihrer Herkunft aus dem obrigkeitsstaatlichen Kirchenregiment her bürokratisch geprägt. In der funktionalen Ausdifferenzierung der letzten Jahrzehnte wurde der Verwaltungsapparat ausgebaut, nicht zuletzt auch durch eine Verfestigung und Erweiterung der Hierarchieebenen (Verwaltungsverbünde). Viele Verfahren wurden sehr komplex, da viele Stellen zu beteiligen sind (Bauverordnungen). Manchmal gab es Ansätze zur Strukturveränderung, die sich am Wirtschaftsleben orientiert hatten (München-Programm). Dabei gibt es seit langem Organisationsentwürfe, die sich an „Non-Profit-Organisationen“ orientieren, die nicht auf Verwaltungsstruktur oder Angebot-Nachfrage-Muster setzen. Sie gehen von einer Anreiz-Beteiligung-Beziehung zur Umwelt aus oder halten schlanke Hierarchien für zukunftsfähiger (Integrale Organisation, agile Organisation) .2 

 

3.  Unsere Kirche hat auf ihre Weise Teil an der Tendenz des Kapitalismus, immer neue Bereiche der Lebenswelt unter sein Beschleunigungs- und Ausbeutungsregime zu bringen. Die Art und Weise der Digitalisierung ist dafür ein Beispiel. Mit Windows 365 hat sich unsere Kirche dem Programm-Anbieter Microsoft ausgeliefert.3 Beim hochempfindlichen Bereich der Personalakten wird die Digitalisierung intensiv vorangetrieben. Dahinter ahne ich die Vorstellung: Mit Kompetenz-Profilen der Mitarbeitenden könnte man zu einem treffsicheren Matching mit den jeweiligen Stellen-Herausforderungen kommen. Rührend naiv, denn jede Person mit Erfahrung in der Personalverantwortung weiß: Kompetenzprofile entwickeln und ändern sich in den Arbeitsfeldern, manchmal positiv überraschend für die Beobachtenden, manchmal enttäuschend. Auch die Anforderungen, gerade in Arbeitsbereichen mit vielen Menschen, ändern und entwickeln sich durch die Personen, die dort wirken. Auch hier beobachten wir „verwobene Regelkreise“.

 

Vermutlich gibt es noch eine ganze Reihe diskussionswürdiger Hypothesen, die die derzeitige Misere verstehen helfen. Dabei gilt, alle Perspektiven und auch Erklärungsversuche sind begrenzt.

 

C) Aus meiner begrenzten Sicht aus der Peripherie der Peripherie unserer Landeskirche taste ich nach Perspektiven. Könnten meine drei Lösungsideen hilfreich sein?

 

1. Kristian Fechtner spürt in seinem neusten Buch den milden Formen der Religiosität - unterhalb der Suchraster von Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen - nach.4  Er stößt dabei auf zarte Pflanzen der Spiritualität, die eher „Pflege“ als „Aufbauen“ brauchen. Könnte es sein, dass die notwendigen Strukturveränderungen in einer kleiner werdenden Kirche ganz ähnlich eher „Pflege und Hege“ brauchen als „Aufbau“ und „Entwicklung“? Zum Pflegen gehört selbstverständlich auch Ausschneiden, Jäten und Umgraben. Wenn die Kraft für die große Fläche fehlt, dann wird wohl die Blühwiese wachsen und der bewirtschaftete Garten wird kleiner.

 

2. In Diskussionen um Strukturveränderungen höre ich immer wieder das Argument: Wir müssen für die nächsten zehn Jahre planen? Müssen wir das tatsächlich für so einen langen Zeitraum? Ist es nicht eher so, dass im „überkomplexen“ Gelände, in dem sich unsere Kirche befindet, eher „Fahren auf Sicht“ angebracht ist: Kleine Schritte machen, die Ergebnisse überprüfen, gegebenenfalls korrigieren und dann mit dem nächsten Schritt weiter gehen?

 

3. Geprägt durch die Herkunft aus der patriarchalen Hierarchie gibt es das feste Muster, dass Kirche eine „Komm“-Veranstaltung ist. Das hält sich bis zum „strategischen Hauptleitsatz“ des PUK-Prozesses durch. Da geht es um den „Zugang“ der Menschen zur Liebe Gottes. Sie müssen also kommen und diesen Zugang suchen. Kirche erscheint als die Hüterin des Zugangs zur Liebe Gottes, die ihn leicht oder schwer macht (Es erinnert an das Modell der spätmittelalterlichen katholischen Kirche, die den Heilsschatzes der überpflichtigen Werke der Heiligen vergibt.) Hartmut Rosa dagegen schreibt vom Strömen der sozialen Energie, die zwischenmenschlichen Zusammenhalt formt. Sie ist kein knappes Gut, sondern vermehrt sich im Prozess.5 Ist es mit der „Dynamis“ des Evangeliums nicht ähnlich: Sie strömt, vermehrt sich und im besten Fall bahnen wir, die in der Kirche Verantwortung tragen, die Wege und dürfen Brücken bauen!

 

Ich würde mich freuen, noch mehr Lösungsideen zu hören und zu sammeln, dabei gerne auch solche, die meine begrenzte Sicht korrigieren.

 

Vom Wartberg aus werde ich nach einer Abfahrt abbiegen Richtung Böhmen. Ich fahre dann eine Runde durch das Ascher Ländchen. Dort begegne ich den alten evangelischen Kirchen der Gemeinde der Böhmischen Brüder Asch-Cheb, einer Kirche in harter Diaspora, die mit ihren Mitteln den Glauben lebt. Ich ahne, wie komfortabel unsere Situation diesseits der Grenze doch ist und wie viele Chancen wir haben.

 

Anmerkungen (Ich verzichte auf Seitenangaben, da ich meinen „Zwischenruf“ nicht als wissenschaftliche Arbeit verstehe):

1. G.Schmidt, Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, Hypnosystemisches Arbeiten in schwierige Kontexten, Heidelber 2015 , 2. Auflage; F.B.Simon u. G.Weber, Vom Naivieren beim Driften, „Post aus der Werkstatt der systemischen Therapie“ Heidelberg 2006, 2. Auflage,

2. P.Schwarz,R. Purtschert, Ch. Giroud, Das Freiburger Management-Modell für Nonprofit-Organisastionen, Bern, Stuttgart, Wein, 1995, 2. Auflage; F.Laloux, Reinventing Organizations, Ein Leitfadung zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015; Jörg Preußig, Agiles Projektmanagement, Freitburg 2018, 2. Auflage;

3. J.Jürgens, Deutschlands Antwort auf Microsoft, Die Zeit, 19.4.2024; S 19f,

4. Kristian Fechtner, Mild religiös, Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit, Stuttgart 2023

5. H.Rosa, Soziale Energie: "Diese Kraft zu verstehen, ist überlebenswichtig für uns alle",  https://www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/soziale-energie-diese-kraft-zu-verstehen-ist-ueberlebenswichtig-fuer-uns-alle

 

 

 

Dr. Volker Pröbstl, Pfarrer und Dekan in Selb