Wir leben in der „Zwischenzeit“

… nämlich am Kipppunkt zwischen dem „Nicht mehr“ und dem „Noch nicht“: Eine These aus dem Buch „Wir können auch anders, Aufbruch in die Welt von morgen“ der Politökonomin Maja Göpel (Berlin 2022) / Eine Besprechung von Martin Kleineidam

 

Die Pflanze Romanesco bildet mit fein ziselierten Türmchen wiederum größere Türme, die den kleinen ähneln. Maja Göpel nimmt in ihrem Buch „Wir können auch anders“ * *(( Göpel, Maja, Wir können auch anders, Aufbruch in die Welt von morgen, Mitarbeit: Marcus Jauer, Berlin 2022))

ein Wunderwerk der Natur (296) als Bild für die Bedeutung des einzelnen Menschen bei der Neugestal tung der Welt von morgen. Die Politökonomin umschreibt unsere Gegenwart als „Zwischenzeit, in der das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“ (44). Irgendwann kommt es in der Zeit des Nicht-mehr und Nochnicht zu einem Kipppunkt (Thomas Schelling 1971). Göpel, die auf den Erkenntnissen der Systemtheoretikerin Donella Meadows aufsetzt, verteidigt den Ansatz beim einzelnen Menschen zur notwendigen ökologischen Veränderung.

 

Der Einzelne vernetzt sich zu einem komplexen System mit zeitlicher Dynamik und einer gemeinsamen Bestimmung. Wie beim Kohl Romanesco ist der einzelne Mensch in dem werdenden Gebilde wichtig für die Gestalt des Ganzen. Ihm wird daher eine Doppelrolle angetragen: die des Sterbebegleiters und der Hebamme.

Da das Neue noch nicht in Gänze erscheinen kann, beschäftigt sich die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin im Hauptteil ihres Werkes mit Systemfallen: Falsche Zielsetzungen, Abhängigkeiten, entfesselter Wettbewerb, Änderungsresistenz und Übernutzung verhindern die Neuwerdung.

 

Ihre charmante Auseinandersetzung mit dem alten System eröffnet allen in den Systemfallen Gefangenen Wege in die neue Welt, die bereits im Werden ist. Es geht der promovierten Honorarprofessorin nicht um Verzichten und Verbieten und schon gar nicht um Ökodiktatur.

 

Verantworten, Vermögen, Vermitteln, Verhalten und Verständigen sind ihre Operatoren des Wandels (113-274). Die gefragte Rednerin kreuzt mit ihrem Buch geschickt gegen den Wind des alten Systems und bewegt sich nahe an unserer Zeit und ihren Erfordernissen. Nicht mehr Analysen und Programme helfen in die neue Zeit, sondern allein die Tat; denn das Zeitfenster der Zwischenzeit zwischen Altem und Neuem ist knapp bemessen und der Ausgang offen. Jetzt aber ist für jeden Einzelnen der günstige Augenblick des Interregnums gekommen, wirkmächtig auf die Neuwerdung der Welt Einfluss nehmen zu können. Die Autorin nimmt den Leser und die Leserin mit hinein in einen „Love Loop“ (272): Wir fangen an, das zu glauben, was wir bereits an Veränderung sehen (ebd.).

 

 Das Buch „Wir können auch anders“ von Maja Göpel ermutigt gerade den Einzelnen, der meint, er könne ja doch nichts ändern, zum Handeln, zum Einmischen, zum Aufbruch. Viele Bilder wie das vom Romanesco, neue und alte — in einen anderen Zusammenhang gestellte — Geschichten (Narrative) und profunde Einblicke aus Ökonomie, Wissenschaft und Gesellschaft sind eine Fundgrube gegen Enttäuschung, Resignation, Rückzug ins Private und gegen Zukunftsängste. „Wir können auch anders“ ist ein Werk, das mit viel Liebe für unsere Zeit geschrieben ist.

 

Martin Kleineidam