Peter Bubmann: Volkskirche ist "Kirche für alles Volk"

Unser Schwerpunktthema „Volkskirche“ im neuen b&k 2023/2 verlangt nach einem Experten-Interview. Unser Gesprächspartner ist Prof. Dr. Peter Bubmann, Institut für Praktische Theologie im Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Peter Bubmann forscht und publiziert vor allem zu Grundfragen der Religions- und Gemeindepädagogik.

Berichte und Kommentare (b&k): Auch wenn gerade in Bayern die Bindekraft des Kirchlichen noch relativ hoch ist und immer noch fünf von acht Bayern einer Kirche angehören (letzter Stand 2021), so sind gleichwohl die aktuellen Austrittszahlen hoch, ja: höher denn je. Und in vielen und zumal in den größeren Städten auch in Bayern sind Christen in der Minderheit (München nur noch ein Drittel, Evangelische unter 10 Prozent, auch Nürnberg). Können wir da noch von einer Volkskirche sprechen?

Peter Bubmann

Professor Bubmann: Der Begriff der „Volkskirche“ hängt nicht allein an der Quantität der Kirchenmitglieder im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Als kirchentheoretisches Konzept meint „Volkskirche“ ja längst nicht mehr „Kirche eines Volkes“, sondern „Kirche für alles Volk“ und „Kirche ausgehend vom (Kirchen-)Volk“, also vom allgemeinen Priestertum. Es geht also um eine programmatische Ausrichtung auf die Pluralität der Kirchenmitglieder. Das ist ziemlich unabhängig vom Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung. Auch die Kirchen in Ostdeutschland etwa wollen und sollten sich m. E. auch weiterhin als Kirche für das ganze Volk verstehen, für die Gesamtgesellschaft unterwegs und an alle gesandt (spirituell wie diakonisch). Ich persönlich halte es daher für kurzsichtig, auf den Begriff der „Volkskirche“ (in einem theologisch gefüllten Sinn) vorschnell zu verzichten und auf Vorstellungen von homogenisierter Freikirchlichkeit umzustellen (mit ihren ganz eigenen Problemen).

 b&k: Trotzdem nochmals die nachfragende These: Die Austrittszahlen sind nun mal nicht wegzuleugnen. Die frühere Selbstverständlichkeit des kirchlichen Daseins in unserer Gesellschaft ist nicht mehr. Die beiden großen Kirchen repräsentieren nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung. Ist das nicht ein Kipppunkt?

Bubmann: Nur weil die Summe der Christenmenschen jetzt 50 Prozent der Gesamtbevölkerung unterschreitet, befinden wir uns noch nicht an einem „KippPunkt‘“. Es gibt allerdings tatsächlich eine schiefe Ebene, weil die Geduld mit institutionellem Versagen (verschiedenster GroßInstitutionen, auch der Parteien!) deutlich abnimmt. Die Individualisierungs-Effekte, die die Religionssoziologie seit Jahrzehnten beschreibt, schlagen eben jetzt voll durch. Viele Kirchenmitglieder wägen rational kühl ab, ob ihnen die Institution Kirche noch etwas bringt. Und wollen dann mit einer Institution, die sich – nach ihrer Einschätzung – von ihrem Leben zu weit entfernt hat oder noch zu wenig von sexualisierter Gewalt und von unterdrückenden, etwa heteronormativ-patriarchalen Strukturen abgrenzt, nichts mehr zu tun haben.

b&k: Welche Erklärung haben Sie für das merkwürdige Phänomen, dass viele Menschen aus der evangelischen Kirche austreten, weil sie sich über die katholische ärgern?

Bubmann: Die Mehrheit der Austretenden hat immer noch primär schnöde finanzielle Gründe für den Austritt (die die Organisation Kirche auch ernster nehmen sollte), weshalb dann auch röm.- kath. Missstände als Austrittsgrund für Evangelische vorgeschoben werden.

b&k: Auch wenn die Kirchen quantitativ verschwinden, bleibt Religiosität in unserer Gesellschaft und damit auch das Interesse an religiösen Fragen und der Bedarf nach religiöser Kommunikation bestehen. Wie sollte, könnte Ihrer Ansicht nach die „verschwindende Volkskirche", konkret bei uns: die ELKB, sich darauf einstellen und darauf reagieren?

Bubmann: Die Volkskirche verschwindet eben ja gerade nicht (s.o.), weil die Pluralität an Erwartungen an Kirche und die Ausdifferenzierung von Milieus und Szenen ja eher noch zunimmt, was ein typisches Kennzeichen von Volkskirche ist. Ebenso wird die hervorragende Bedeutung der biografischen Wendepunkte im Leben („Kasualien“) bleiben. Deshalb muss die Professionalität der Kasualarbeit weiterhin Priorität in der spätmodernen Volkskirche einnehmen. Dazu eine ausdifferenzierte Landschaft von einladend-ausstrahlenden Zentren spiritueller wie diakonisch-gesellschaftlicher Präsenz. Außerdem müssen sich die Regionen besser koordinieren und die vorhandenen Stärken (egal ob in parochialer Obhut oder bei Diensten und Werken) weiter ausbauen, während erkennbar Nicht-Gelingendes abgebaut werden muss. Das erfordert mehr Ehrlichkeit in Evaluierungsprozessen kirchlicher Arbeit als wir es bislang gewohnt sind. So kann am Ende auch eine kleiner werdende Volkskirche den Geist des Evangeliums ausstrahlen in alle Welt.

Interview: Lutz Taubert