Israel und Palästina

Der Nahostkonflikt nimmt kein Ende

Existenzrecht Israels –

und die Palästinenser?

Müssen wir nicht das Handeln des  Staates Israel an den Palästinensern kritisieren?

Von Johannes Herold

 

Der Nahostkonflikt ist eines der heißesten Eisen, zu denen man sich äußern kann. Seit rund 150 Jahren (den ersten größeren Einwanderungen von Juden aus aller Welt) stellt sich die Frage, wie die Menschen dort friedlich zusammenleben können.

Die Briten haben versucht, das zu regeln – im Auftrag der UNO – und haben ihr Mandat 1948 aufgegeben. Der Abzug damals war so chaotisch, wie seitdem wohl erst  wieder der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan.

Mit uns Deutschen und uns Christen hat dieser Konflikt doppelt zu tun: Der internationale Antisemitismus hat seine Wurzeln zu großen Teilen im christlichen Antijudaismus. Er hat zu Diskriminierung und Pogromen gegen Juden auf der ganzen Welt geführt. Und als der Faschismus die Deutschen zum totalen Krieg begeistert hat, waren Juden die ersten Ziele. Aus diesen zwei Quellen bildete sich der Gedanke, dass ein Christ – zumal ein deutscher – das Existenzrecht Israels an oberste Stelle setzen müsse. Noch mehr: Jegliche Kritik an Israel verbiete sich von vornherein.

Im Gegensatz zu dieser strikt proisraelischen Haltung hatte sich die Bewegung der Linken in den 60er- und 70er-Jahren dem Freiheitskampf der PLO verschrieben. In diesem neuen Kampf von „David gegen Goliath“ wurde plötzlich der junge Staat Israel zum bösen Goliath, die Palästinenser zum neuen David.

Für die deutschen Regierungen war die Versöhnung der beiden Staaten oberstes Ziel, mit Kritik hielt man sich zurück.

Andererseits führte die geschichtsbewusst diplomatische Vorsicht dazu, dass die Lage der Palästinenser in der deutschen Öffentlichkeit sehr wenig differenziert wahrgenommen wurde. Entweder wurden „die Palästinenser“ insgesamt als Terroristen abgestempelt – oder als Freiheitskämpfer idealisiert. Dabei wurden die Entwicklungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft vollkommen ausgeblendet, ebenso wie die Veränderungen in der israelischen Politik.

Auf palästinensischer Seite hat sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Politik des Nation-Buildings durchgesetzt. Wenn früher noch Banden mit Kalashnikovs auf Jeeps  durch Ramallah rasten, kontrollierten jetzt palästinensische Parkwächter die Parkzettel.

Demokratische Strukturen und vor allem Verwaltungen wurden auf dem Gebiet der Westbank aufgebaut, die laut dem Urteil der Weltbank höchstes westliches   Niveau erreichen.

Auf der anderen Seite steht ein israelischer Staat, der von national-religiösen Siedlern getrieben jede Gelegenheit zum Siedlungsbau nutzt. War in den 90er- Jahren ein palästinensischer Staat noch möglich, ist das Gebiet mittlerweile so stark zersiedelt, dass eine Zweistaatenlösung de facto kaum mehr möglich ist. Die israelische Gesellschaft trägt diese Situation im Wesentlichen mit, erfreut sich relativer Ruhe und Sicherheit – und (er-)trägt, dass der Militärdienst eine wesentliche Rolle im Leben fast aller Bürger spielt. Die seelischen Folgen dieses Dienstes hat der ehemalige Soldat und Gründer der NGO Breaking the silence, Yehuda Shaul, beeindruckend dargestellt: Wenn man als Soldat durch die Straßen palästinensischer Städte patrouilliert, ist man permanent in Angst davor, erschossen zu werden. Deshalb haben wir irgendwann aufgehört, durch die Straßen zu laufen, sondern sind durch die Häuser gegangen. Wir hatten den Auftrag, die Menschen maximal zu erschrecken. Wir haben einfach Wände gesprengt, um von einem Haus zum nächsten zu gelangen. Wenn dieses Verfahren nicht möglich war, haben wir uns Palästinenser gesucht und sie mitgenommen, damit wir nicht beschossen werden. (Sinngemäß zitiert aus einer Führung mit Yehuda Shaul im Jahr 2012).

 

Das hinterlässt Wunden nicht nur bei den offensichtlichen Opfern, sondern auch bei den Tätern. Als Christen sind wir immer aufgefordert, die Opfer in den Blick zu nehmen und Partei zu ergreifen für diejenigen, die keine Lobby haben.

Nun kann man darüber streiten, ob die Palästinenser eine Lobby haben oder nicht. Nach mehreren erfolglosen Kriegen der arabischen Nachbarländer  haben sich die ehemaligen Feinde mit dem „kleinen Satan“ in ihrer Nachbarschaft arrangiert und alle Feindlichkeiten eingestellt – auf Kosten der palästinensischen Familien, die in großer Armut in die ehemaligen Flüchtlingslager in Jordanien und dem Libanon abgeschoben wurden.

In jedem Fall muss man aber konstatieren, dass der Staat Israel in den letzten 20 Jahren eine staatliche Existenz Palästinas unmöglich gemacht und massive Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern zugelassen hat.

Der Verein Studium in Israel, der sich seit über 40 Jahren dem christlich-jüdischen Dialog widmet und in seiner Solidarität gegenüber Israel vollkommen eindeutig ist, „hat sich vor wenigen Jahren bei seiner alljährlichen Jahrestagung mit dem Thema Antisemitismus beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass die Verurteilung politischer Positionen von Israelis oder Palästinensern als antisemitisch oder rassistisch so nicht durchzuhalten sind. Der Vorwurf des Antisemitismus wird dann zu einem Totschlagargument, das berechtigte Positionen verunglimpfen soll. Kann man die Politik Israels also kritisieren, ohne sich den Applaus von der falschen Seite zu holen und ohne zum Antisemiten zu werden? Die Mitglieder des Vereins haben bei der Jahrestagung die Linie gefunden, dass wir um des Volkes und des Staates Israel willen, die Politik gegenüber den Palästinensern kritisieren müssen! Gerade weil wir mit den Menschen aus historischen, politischen und religiösen Gründen solidarisch sein wollen, müssen wir auf die Fehlentwicklungen hinweisen.

Diese Argumentation wird auch gestützt durch die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA). In diesem Papier vom März 2021 entwickelten Wissenschaftler eine Definition von Antisemitismus, die eine unzulässige Gleichsetzung von Kritik und Antisemitismus offenlegt, während antisemitische Züge in der Israelkritik deutlich benannt werden können. In fünf Schritten wird definiert, was als antisemitisch zu betrachten ist, zum Beispiel die Verallgemeinerung von Charaktereigenschaften einzelner Menschen auf „alle Juden“ oder „den Staat Israel“, Holocaustleugnung. Demgegenüber werden Positionen benannt, die als legitime Kritik am Staat Israel bezeichnet werden. Dazu zählt nach These 13: „Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. Dazu gehören seine Institutionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im West­jordanland und im Gazastreifen. Es ist nicht per se antisemitisch, auf syste­matische rassistische Diskriminierung hinzuweisen.“ 

Wie könnte also eine christliche Position zum Nahostkonflikt heute aussehen? Vielleicht so: Die Ungerechtigkeit und Brutalität gegenüber dem palästinensischen Volk bringt uns auf und zeigt, dass auch das jüdische Israel hier massiven Schaden leidet. Als Christen, als Deutsche, stehen wir aufgrund unserer Religion und unserer Geschichte an der Seite des jüdischen Volkes und sehen sein Existenzrecht in sicheren Grenzen eines eigenen Staates. Um der seelischen Gesundheit dieser Gesellschaft willen tun wir alles in unserer Macht stehende, um die Palästinenser in ihrer Arbeit an einem eigenen Staat zu unterstützen.

Johannes Herold